Der Hirsch und der Fuchs

»Hirsch, wahrlich, das begreif ich nicht«,
Hört ich den Fuchs zum Hirsche sagen,
»Wie dir der Mut so sehr gebricht?
Der kleinste Windhund kann dich jagen.
Besieh dich doch, wie groß du bist!
Und sollt es dir an Stärke fehlen?
Den größten Hund, so stark er ist,
Kann dein Geweih mit einem Stoß Entseelen.
Uns Füchsen muss man wohl die Schwachheit übersehn;
Wir sind zu schwach zum widerstehen.
Doch dass ein Hirsch nicht weichen muss,
Ist sonnenklar. Hör meinen Schluss.
Ist jemand stärker, als sein Feind,
Der braucht sich nicht vor ihm zurückzuziehen;
Du bist den Hunden nun weit überlegen, Freund:
Und folglich darfst du niemals fliehen.«

»Gewiss, ich hab es nie so reiflich überlegt.
Von nun an«, sprach der Hirsch, »sieht man mich unbewegt,
Wenn Hund' und Jäger auf mich fallen;
Nun widersteh ich allen.«

Zum Unglück, dass Dianens Schar
So nah mit ihren Hunden war.
Sie bellen, und sobald der Wald
Von ihrem Bellen widerschallt,
Fliehen schnell der schwache Fuchs und starke Hirsch davon

Lessing

 

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